Mary Cassatt, 1890
Lizenz: gemeinfrei
In diesem Beitrag geht es um eine der ältesten Überlebensstrategien der Säugetiere, das Stillen.
Ich möchte dir zeigen, wie eng die historischen Entwicklungen mit unseren heutigen Stillerfahrungen verknüpft sind. Du wirst feststellen, dass einige unserer Stillschwierigkeiten und Unsicherheiten ihren Ursprung weit in der Vergangenheit haben. Um das zu verstehen, wagen wir gemeinsam einen Blick zurück.
Am Ende wirst du so manches mit anderen Augen sehen.
Menschen sind Säugetiere. Unsere Babys mit Milch aus der Brust zu ernähren, ist quasi eine unserer Kernkompetenzen. Blickt man zurück in die Geschichte des Stillens wird schnell klar: Es ist viel passiert auf dem Weg von den Anfängen der Menschheit bis in unsere Gegenwart.
keinen Mutterinstinkt
Zuerst die schlechte Nachricht: Menschenmütter haben, anders als häufig angenommen, keinen Mutter- oder Säugeinstinkt. Die gute Nachricht ist aber: Stillen kann man lernen. Wenn es anfangs also nicht gleich klappt, sind wir weder schlechte Mütter noch unfähig, wir müssen ganz einfach mehr üben.
nicht immer angesagt
Stillen war nicht immer populär. Im Laufe der Zeit hat es sich von einer überlebenswichtigen Strategie über eine lästige Pflicht hin zu einer bewussten Lebensentscheidung gewandelt. Gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse sorgten für diesen Wandel. Die Entscheidung, wie ein Säugling ernährt wird, stand immer auch unter dem Einfluss sozialer und kultureller Normen.
Begeben wir uns gedanklich zunächst zurück in die Steinzeit. Dorthin wo alles anfing mit uns Menschen. Damals lebten wir in Gruppen, den sogenannten Clans zusammen. Innerhalb eines Clans gab es wahrscheinlich mehrere stillende Mütter und viele Kinder. Die Mütter trugen die Kinder bei sich und stillten sie nach Bedarf. Je nach Kultur wurden Babys auch von mehreren Frauen mit Milch versorgt.
viele Stillvorbilder
Stillende Mütter waren allgegenwärtig. Von klein auf sahen die Mädchen, wie Babys stillten. So lernten sie, wie es funktionierte, spielten es nach und später, wenn sie selbst einmal Mutter waren, konnten sie auf das in ihnen abgespeicherte Wissen und die verinnerlichten Bewegungsmuster zurückgreifen. Wenn es doch einmal zu Problemen kam, gab es stets genug Expertinnen, die einer jungen Mutter zur Seite stehen konnten. Doch die Idylle währte nicht ewig.
Sesshaftigkeit bringt die erste Veränderung
Mit Beginn der Sesshaftigkeit begannen die Menschen mit der Haltung von Nutztieren. Funde von Trinkgefäßen mit Milchresten, die in Kindergräbern aus der Zeit um 4000 v. Chr. entdeckt wurden, belegen, dass Kinder bereits damals Tiermilch erhielten. Unklar ist jedoch, wie alt sie waren, als sie zum ersten Mal mit der fremden Milch in Kontakt kamen.
Stillen bis ins Kindesalter
Anhand von Knochenfunden lässt sich jedoch die ungefähre Stilldauer bestimmen. Die Untersuchungen zeigen, dass Kinder damals erst mit fünf bis sieben Jahren vollständig abgestillt wurden. Wie alt sie waren, als sie die erste Beikost erhielten, lässt sich daraus jedoch nicht ableiten.
das Lebensumfeld ist entscheidend
Forschungen zeigen außerdem, dass die Stilldauer immer stark vom Lebensumfeld abhängt. So werden Kinder in einer nahrungsreichen Umgebung früher abgestillt, da es mehr Möglichkeiten der anderweitigen Ernährung gibt.
Mit fortschreitender gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung änderte sich die Einstellung gegenüber dem Stillen weiter. Es bekam nach und nach ein schlechtes Image und wurde zur lästigen Pflicht und Bürde der Frau degradiert, von der es sich zu befreien galt.
Ammen stillten wohlhabende Kinder
Bereits aus der Antike ist belegt, dass wohlhabende Frauen, sogenannte Ammen beschäftigten, die die fremden Kinder gegen Entlohnung stillten. So konnten die Frauen der Oberschicht schneller wieder schwanger werden und mit weiteren Nachkommen zum Erhalt des Geschlechts beitragen.
Alternativen zu Muttermilch
Aber auch Frauen aus den niederen Ständen, die sich keine Ammen leisten konnten, suchten nach Alternativen zur Muttermilch. Die sehr hohe Arbeitsbelastung war ein häufiger Grund, weshalb sie auf Tiermilch, vorgekaute Erwachsenennahrung oder Mehl- und Brotsuppen zurückgriffen.
Im Mittelalter wurden die meisten Kinder von ihrer Mutter gestillt und die Stilldauer betrug in der Regel ein bis zwei Jahre, wobei nur die Kinder aus ärmeren Familien deutlich länger als ein Jahr gestillt wurden. Sobald die ersten Zähnchen durchbrachen, wurde die Nahrung mit weicher Beikost ergänzt.
ein schlechtes Image
Im Hochmittelalter kam die Muttermilch in Verruf. Falsche medizinische Annahmen brachten ihr ein schlechtes Image ein. So galt in dieser Zeit die Vormilch (Kolostrum) von der wir heute wissen, wie überaus gesund und wertvoll sie ist, als schädlich. Der Säugling wurde daher lieber mit der reiferen Milch einer anderen Frau ernährt oder bekam gesüßten Wein, Honig oder Sirup als Ersatz gereicht. Leider war die Sterberate der auf diese Weise ernährten Kinder sehr hoch.
Ammen und Tiermilch
Viele Frauen der Oberschicht verzichteten lieber gleich ganz darauf ihre Kinder zu stillen und gaben sie stattdessen in die Obhut von Ammen. Da die Ammen oft in sehr ärmlichen Verhältnissen lebten, starben viele der fremdgestillten Kinder. Es gab Regionen in Deutschland, in denen seit dem späten Mittelalter quer durch alle Bevölkerungsschichten gar nicht mehr gestillt wurden. Dort wurden die Babys von Beginn an mit Tiermilch und Brei ernährt.
falsche Annahmen
In der frühen Neuzeit hielt das Ammenwesen dann auch im städtischen Bürgertum Einzug. Grund dafür war vermutlich die von der Kirche verhängte sexuelle Abstinenz in der Stillzeit. Man glaubte, dass eine erneute Schwangerschaft die Qualität der Milch verschlechtere. Stillen stand in der Oberschicht somit in Konkurrenz zur Sexualität und dem Gebären weiterer Nachkommen. Hinzu kam, dass es in gehobenen Kreisen als niedere animalische Tätigkeit verpönt war.
stillen kommt aus der Mode
Das Selbststillen wurde zunehmend als abwegig wahrgenommen. Es wurde zu einem Statussymbol seine Kinder nicht selbst stillen zu müssen. Einer Frau von Rang und Namen kam eine solche Aufgabe nicht zu. Der Zivilisationsprozess führte dazu, dass Frauen sich außerdem schämten, ihre Brust zum Stillen zu entblößen.
Mit einsetzten der Aufklärung versuchten Mediziner das Stillen wieder zu etablieren. Seit dem 18. Jahrhundert wurde es von ihnen gar zur „natürliche Pflicht“ der Mutter erklärt. Ammen und der weit verbreitete Mehlbrei wurden nun kritisiert.
hohe Säuglingssterblichkeit
Trotzdem gab es Gegenden in Deutschland in denen Babys weiterhin gar nicht gestillt wurden. Und das, obwohl die Sterberate der nicht gestillten Kinder weiterhin deutlich erhöht war. So erreichten um 1730 in Baden nur ein Viertel bis ein Drittel der Kinder das Erwachsenenalter. Es bestand ein deutlicher Zusammenhang zwischen der hohen Sterblichkeit und dem Fremdstillen.
unterschiedliche Motive
Mütter Befragungen ergaben unterschiedliche Gründe warum Frauen nicht stillten. In den niederen Schichten war die hohe Arbeitsbelastung der Hauptgrund. Adelige Frauen hingegen stillten nicht, weil es sich nicht mit ihrer Repräsentationspflicht vereinbaren ließ, denn stillende Frauen mussten sich aus der Gesellschaft zurückziehen. Ob eine Mutter stillte oder nicht, war außerdem nicht ihr eigener Entschluss, sondern wurde von den Ehemännern und der Familie mitentschieden. So untersagten manche Männer ihren Frauen das Stillen.
Vorurteile machten es schwer
Hinzukamen eine Reihe von Vorurteilen. So wurden Mütter der unteren Schichten, die ihre Kinder stillten, landläufig als faul verschrien. Frauen der gehobenen Schichten befürchteten gar, dass das Stillen ihre Attraktivität mindern könnte und die Brust verforme. Es wurden zudem gesundheitliche Risiken befürchtet. Man glaubte, dass die Frauen auf dem Land gesünder und widerstandfähiger seien als Stadtfrauen und daher das Stillen besser wegsteckten und sogar die bessere Milch gäben.
Da die Arbeitsbelastung ein ausschlaggebender Faktor bei der Stillentscheidung war, ist es nicht verwunderlich, dass im Zuge der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert die Stillrate in den Städten erneut sank.
Suche nach Alternativen
Angetrieben von der Suche nach Alternativen zur Muttermilch kam Ende des 19. Jahrhunderts ein neuer Kochapparat auf dem Markt, mit dem man verdünnte, mit Milchzucker versetzte Kuhmilch in kleinen Flaschen sterilisieren konnte. Dennoch war die Sterblichkeit der „Flaschenkinder“ immer noch signifikant höher als die der Stillbabys.
Kindermehl
Die erste Fertignahrung für Babys wurde 1865 in flüssiger Form entwickelt. Kurz darauf wurde eine Pulvernahrung namens Kindermehl auf den Markt gebracht. Seither wurde diese Rezeptur immer weiterentwickelt und verbessert. Bald schon waren die Ersatznahrungen in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Ammen verloren dadurch nach und nach ihre Bedeutung.
Ende des 19. Jahrhunderts brachte L. Emmett Holt, ein Pionier der Pädiatrie sein Werk „The Care and Feeding of Children“ heraus. Darin versuchte er die hohe Kindersterblichkeit mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verringern. Er war ein starker Befürworter des vollen Stillens und vertrat die Ansicht, dass das Baby erst im letzten Viertel des ersten Lebensjahres abgestillt und an Beikost gewöhnt werden sollte.
stillen nach der Uhr
Auch heute noch kommen Frauen mit Teilen seiner Theorie in Berührung etwa, wenn ihnen nahegelegt wird, ihr Baby nach der Uhr zu stillen. Holt ging nämlich davon aus, dass das Baby nach der Stillmahlzeit eine Verdauungspause benötige und warb daher für ein striktes Einhalten des Stillrhythmus. Heute empfehlen Stillberaterinnen jedoch das Stillen nach Bedarf und das Reagieren auf den individuellen Rhythmus des Kindes.
Behaviorismus
Nach Holt folgte der Behaviorist John B. Watson. Er war der Meinung, dass gemäß dem Behaviorismus der Mensch beliebig formbar sei. In seinem Werk „Psychological Care of Infant and Child“ aus dem Jahr 1928 warnte er davor, die Kinder zu sehr zu verwöhnen und sie so zu verderben.
Mütter sind schuld
Er beschuldigte vor allem die Mütter, die ihre Kinder aus seiner Sicht verhätschelten. Stattdessen riet er das rationale Einüben guter Gewohnheiten und setzte wie Holt auf das Füttern nach der Uhr. Um den körperlichen Kontakt zu reduzieren und somit das Verzärteln des Kindes zu verhindern, warb er für die Flaschenfütterung.
die Angst zu verwöhnen
Auch wenn Watsons Theorie heute überholt ist, schwingt sie immer noch in Bemerkungen mit. Etwas wenn Mütter heute gesagt bekommen, dass sie mit dem Stillen nach Bedarf ihre Kinder zu sehr verwöhnten.
Mit der Weiterentwicklung der Flaschennahrung hielten auch ein neues Vorurteil Einzug: Stillen schränke die Freiheit der Frau ein. In der Folge geriet es erneut außer Mode und immer mehr Frauen griffen stattdessen zur Milchflasche. Schon bald breitete sich dieser Trend, unterstützt durch die wachsende Baby-Industrie, in der Welt aus.
Schadstoffe in der Milch
In Deutschland führte die Nachricht über Rückstände schwer abbaubarer chemischer Schadstoffe in der Muttermilch zu einem weiteren zeitweiligen Rückgang des Stillens. Neuere Studien ergaben jedoch, dass die Menge an Schadstoffen in der Milch wieder sinken. Heute geht man davon aus, dass die Vorteile des Stillens die Nachteile bei weitem überwiegen.
Achtung Einschränkung
Es gibt jedoch eine Einschränkung für Mütter, die regelmäßig Nikotin, Alkohol oder andere Drogen konsumieren. Ihnen wird geraten aufgrund der Schadstoffe lieber auf Fertignahrung zurückzugreifen. Auch bei der Einnahme von Medikamenten ist vorher Sorge zu tragen, dass diese stillverträglich sind.
In Deutschland und anderen Teilen Europas ist die erste Flascheneuphorie bereits wieder abgeklungen. Auch die Wissenschaft hat die Bedeutung des Stillens erkannt und es wurde ein Werbeverbrot für Säuglingsnahrung verhängt. Viele Frauen in Deutschland entscheiden sich ganz bewusst für das Stillen.
Vorsicht Dogma
Mittlerweile ist in manchen Bereichen sogar eine Umkehr der Verhältnisse zu beobachten. So fühlen sich Frauen, die nicht stillen können oder wollen heute immer öfter unter Druck gesetzt und haben das Gefühl sich rechtfertigen zu müssen. Das führt wiederrum zur Kritik an den Stillbefürworter:innen. Sie werden kritisiert, dass Thema Stillen zu überhöhen. So gibt es Studien, die zu dem Schluss kommen, dass gestillte und mit der Flasche aufgezogene Kinder sich in puncto körperlicher, emotionaler und intellektueller Entwicklung nicht signifikant unterschieden.
eine lange Geschichte
Es zeigt sich, das Thema der besten Säuglingsernährung war immer umstritten und im Laufe der Geschichte vielfachem Wandel unterlaufen. Wir tragen das Erbe dieser Geschichte in uns, ob wir es wollen oder nicht. So wird fast jede Mutter mindestens einmal im Laufe ihrer Stillzeit mit Stillschwierigkeiten konfrontiert.
Vorbilder und Mythen
Fehlender Vorbilder und Mythen machen es uns bis heute schwer. Vor dem Hintergrund der überaus ambivalenten Geschichte des Stillens ist unsere Unsicherheit, ja ich möchte fast sagen, unser gespaltenes Verhältnis zum Stillen nicht verwunderlich.
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