Tyrannenkinder?

6cut1

Es geht wieder um in Deutschland, das Gespenst der Tyrannenkinder.

Pädagoge Albert Wunsch hat es im SPIEGEL vom 8.1.22 mit seinen Thesen über die heutige Kindererziehung wachgerufen, die seiner Meinung nach nur „lebensuntüchtige“ Egoisten erschaffe.

Also atmen wir einmal tief durch, und schauen uns seine
Vorwürfe mal aus bindungsorientierter-Sicht an.

Inhaltsverzeichnis

Ignorieren oder Stellung nehmen?

Immer wenn ich Texte lese, in denen Kinder und Eltern diskriminierend dargestellt oder Fehlinformationen verbreitet werden, stelle ich mir die gleiche Frage: ignorieren oder Stellung nehmen? Einerseits möchte ich keine zusätzliche Aufmerksamkeit oder gar Werbung für solche Inhalte erzeugen, andererseits finde ich es auch gefährlich, wenn solche Texte unkommentiert bleiben, vor allem wenn sie falsche Infos verbreiten.

Dieses Mal habe ich mich dazu entschieden, auf den Artikel einzugehen, um Eltern zu zeigen, dass es aus wissenschaftlicher Sicht nicht bestätigt ist. Am Ende des Textes, findet ihr den Link zum Artikel. Aber hier soll es vor allem um eine andere Sicht auf die Kinder (und Eltern gehen).

Training vom ersten Tag an

Starten wir direkt mit einer erschreckenden Aussage. Laut Herrn Wunsch bräuchten Kinder ein „Training vom ersten Tag an“, anstatt in Watte gepackt zu werden. Das ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Wissenschaftler:innen sind sich hier einig, dass eine gesunde Entwicklung der Babys vor allem im ersten Jahr von der prompten und zuverlässigen Reaktion der Eltern abhängt.

Babys können Weinen nicht instrumentalisieren

Babys können nicht verwöhnt werden, sie sind zudem auch nicht in der Lage Weinen absichtsvoll einzusetzen, um uns beispielsweise zu tyrannisieren. Ein Baby, das schreit ist immer in Not und braucht immer ein liebevolles Gegenüber, das sofort zur Stelle ist. Das ist wissenschaftlicher Konsens.

Bloß nicht verwöhnen

Eine weitere Thesen, die der Neusser Sozialpädagoge und Autor Albert Wunsch gegenüber dem SPIEGEL äußert ist folgende: „Wer seinen Nachwuchs zum selbstständigen Menschen erziehen möchte, sollte darauf verzichten, ihm Dinge abzunehmen und es ihm möglichst leicht zu machen.“

Was ist eigentlich „verwöhnen“?

Verwöhnen ist, etwas für jemanden zu tun, was er/sie eigentlich selbst tun könnte. Komischerweise messen wir in unserer Gesellschaft hier aber permanent mit zweierlei Maß. Wenn der/die Partner:in nach Hause kommt und uns um einen Gefallen bittet, weil der Tag so stressig war, pampen wir in der Regel nicht zurück, dass er/sie das ja wohl mal schön selber machen kann (auch wenn die Person prinzipiell schon in der Lage wäre, sich ihren Tee selbst zu kochen).

Kinder sind auf uns angewiesen

Würden wir das dauerhaft mit unserem/er Partner:in machen, wäre er/sie wahrscheinlich nicht mehr lange mit uns zusammen. Bei Kindern allerdings sollen wir es anders machen. Denen sollen wir bloß nicht entgegenkommen… aber Leute, Kinder können, anders als Lebenspartner:innen, nicht einfach gehen, wenn sie sich schlecht behandelt und unverstanden fühlen.

Erfolgsfaktor Nummer 1: Einfühlunsvermögen

Studien zeigen zudem: Erfolgsfaktor Nummer eins für eine gesunde Entwicklung von Kindern ist das Einfühlungsvermögen der Eltern. Wenn Eltern also feinfühlig auf ihre Kinder eingehen, dann sind diese Kinder später in der Lage länger zu warten, sich besser zu beruhigen und Stress besser auszuhalten.

Ein alter Hut

Training vom ersten Tag an… durchgreifen… hart bleiben… Wir haben diese Forderungen alle schon mal gehört. Wann war das noch gleich…. ah! Ich weiß, vor ein paar Jahrzehnten, da gab es auch Leute, deren größte Angst es war, dass Kinder uns tyrannisieren oder noch schlimmer, durch Verwöhnung gleich ganz verweichlichen könnten.

andere Zeiten, andere Ziele

Diese Leute hatten vor allem das Erziehungsziel Soldaten zu erschaffen, die gehorsam sind und kein Mitgefühl gegen über dem Gegner zeigen. Dementsprechend war ihre Erziehung auch geprägt von Härte, Strenge und Strafen. Die hießen übrigens Nazis, diese Leute. Merkt ihr was?

Ehrlich, Herr Wunsch? Nazis? Back to the dark, dark times of our history???

Wo soll es hingehen?

Man kann sich jetzt natürlich darüber streiten, was das Erziehungsziel heute denn nun sein soll. Ich möchte einfach nicht hoffen, dass wir wieder an dem Punkt sind, wo wir gehorsame Soldaten brauchen. Wenn das doch der Fall ist, und das der Gedanken von Herrn Wunsch war, dann hab ich nichts gesagt. Dann bitte auf jeden Fall Härte und Training vom ersten Tag, da kommen mit Sicherheit gute Soldaten raus, hat sich ja schon mal bewährt.

Ideen, Kraft, Mut und Zukunftsperspektive

Aber Herr Wunsch gibt uns selbst einen Hinweis, welche Art von Menschen wir seiner Meinung nach in der Zukunft brauchen. Er vermisst Menschen mit Ideen, Kraft, Mut und Zukunftsperspektive. Also wohl doch keine Soldaten für Herrn Wunsch. Dann müssen wir uns aber darüber unterhalten, wie wir diese Menschen bekommen.

Weltretter:innen statt Soldaten

Meiner Meinung nach brauchen wir heute vor allem Leute, die die Probleme der Welt in den Griff bekommen und ich meine jetzt die richtig großen Probleme, die da heißen Pandemien, Klimawandel und Flüchtlingskrisen. Wunsch befürchtet, dass die Gesellschaft es teuer bezahlen würde, wenn wir so weitermachen. Ich denke eher, die Gesellschaft bezahlt es teuer, wenn wir nichts ändern. Denn mit gehorsamen und harten Soldaten kommen wir hier wahrscheinlich nicht weit.

achtsam und liebevoll

Wir brauchen viel eher Kompetenzen wie Kreativität, Problemlösefähigkeit und Kompromissbereitschaft. Und mit welchen Erziehungsmethoden kriegen wir die? Kleiner Spoiler: nicht mit Härte und Durchgreifen sondern und da sind wir wieder am Anfang: mit feinfühligen Eltern, die ihre Kinder achtsam und liebevoll begleiten und ihnen das geben, was sie brauchen: bedingungslose Liebe.

Über Regeln und Richtlinien

Zum Thema Regeln gibt es zu sagen, dass es Regeln gibt, die unverhandelbar sind („Du haust Leon nicht!“) und es gibt Regeln, da kann man drüber streiten und sollte es auch ruhig tun, denn wir wollen ja die kompromissfähigen Erwachsenen von morgen und nicht die gehorsamen. Also unterscheiden wir mit welcher Art Regel wir es zu tun haben und setzen sie dann dementsprechend um.

Wo bleibt da die Konsequenz?

Und wo bleibt da die Konsequenz? Konsequenz im “artgerecht®-Sinne” nach Nicola Schmidtz heißt, sich konsequent nach der Verfassung des Kindes zu richten. Wir müssen nichts durchziehen nur um der lieben Konsequenz Willen. Wenn wir unseren Kindern zeigen, dass wir ihre Nöte sehen und im Zweifel auch mal fünfe grade sein lassen, werden sie später auch nachsichtig mit uns sein.

Achtung bei Dauerstress

Wenn wir also einfach mal nicht mehr können, dürfen wir Ausnahmen machen. Aber Vorsicht: Wenn du dauergestresst bist und die Ausnahme zur Regel wird, ist es an der Zeit, dir Hilfe zu holen. Du findest sie in deinem Umfeld oder bei einem Eltern Coach.

Autorität

Eltern verlieren übrigens auch keineswegs an Autorität, wenn sie mit sich reden lassen. Natürliche Autorität kommt nicht davon, dass man einfach immer stur seine Meinung durchsetzt. Es sollte hier nicht um die Machtfrage gehen.

natürliche Autorität

Eltern übernehmen die Führung in allen Fragen, die die Gesundheit und Sicherheit der Kinder betreffen. Wenn wir das leben, strahlen wir eine natürliche Autorität aus. Wir sind uns unserer Verantwortung gegenüber unserem Kind bewusst, für seine Sicherheit zu sorgen.

Spielräume lassen

In anderen Bereichen hingegen, können Kinder auch (altersangemessen) mitentscheiden, zum Beispiel bei der Frage, welchen Pulli sie wollen. Denn spätestens seit Jesper Juul wissen wir: Kinder sind kompetent aber nicht erfahren.

Wie soll das nur in der Schule werden?

Noch ein Absatz zu den Schulen: Ja es mag stimmen, dass manche der Kinder, die binungsorientert aufwachsen manchmal Probleme haben, sich an die Gepflogenheiten in der Schule zu gewöhnen. Sie hinterfragen Regeln möglcherweise stärker, wollen eventuell öfter mitbestimmen und Strafen treffen sie mitunter besonders hart, vor allem, wenn sie ihnen ungerecht erscheinen.

andere Orte, andere Sitten

Der andere Teil dieser Kinder hingegen gliedert sich problemlos ein und versteht, dass an diesem Ort eben andere soziale Regeln gelten als zuhause. Sie können beides gut trennen. Es muss also gar nicht schwierig werden mit der Schule. Nur Mut!

für Lehrer:innen schwierig

Für Lehrer:innen können Kinder, die Regeln hinterfragen und starke Gefühle zeigen mitunter schwierig sein, denn ihr Bild von Unterricht ist häufig noch ganz anders geprägt. Auch in der Schule geht es immer wieder um Gehorsamkeit, es werden Machtkämpfe ausgetragen, Druck wird an Schüler:innen weitergegeben. Und viele Lehrer:innen wissen trotz pädagogischer Ausbildung einfach nicht, wie sie Kinder mit starken Emotionen gut begleiten können.

bindungsorientierte Schule

Wenn bindungsorientiert erzogene Kinder anecken, dann also nicht unbedingt, weil sie falsch erzogen wurden, sondern weil das Schulsystem, wie wir es in Deutschland kultivieren nicht darauf ausgelegt ist. Und das sage ich als Lehrerin, die weiß, wovon sie spricht.

Vom ICH zum WIR

Entgegen der Meinung von Herrn Wunsch, der besorgt darüber ist, dass das ICH immer wichtiger werde und das WIR immer unwichtiger, bekommt man durch die von ihm vorgeschlagene Erziehungslinie übrigens gar kein zusammenhaltendes WIR, sondern eher ein angeknackstes ICH.

kein WIR ohne ICH

Ein WIR ist schließlich nur so gut, wie die vielen ICHs die darin stecken und die brauchen…. ja ihr wisst es jetzt: einfühlsame Eltern. Denn die größte Macht, die Eltern haben, ist die Macht des Vorbilds. Also lasst uns unseren Kindern zeigen, wie die Welt sein soll: liebevoll, friedlich und respektvoll und sie werden es für uns weitertragen, wenn wir nicht mehr sind.

Du interessierst dich dafür, wie du dein Kind ohne Schimpfen erziehen kannst? Dann lade ich dich ein, mal in meinen Artikel zur Erziehung in Kinderbüchern reinzulesen.

Wenn du wissen willst, wie du dein guter Vater für dein Baby sein kannst, empfehle ich dir meine Rezension zum Buch Vater werden von Nicola Schmidt und Klaus Althoff.

Eigentlich möchte ich keine Werbung für Artikel mit solchen Inhalten machen, dennoch gehört es meiner Meinung nach zur Vollständigkeit einer Stellungnahme, dass klar wird, worauf sie Bezug nimmt. Daher kommt hier der Link zum Artikel im SPIEGEL vom 8.1.22. Ob ihr ihn lest, entscheidet ihr, aber wenn ihr ihn lest, dann verfasst doch gerne einen Kommentar dazu, damit klar wird, dass es auch eine andere Sicht der Dinge gibt.

Wenn du dich für das artgerecht® Projekt interessierst, dann schau mal unter https://www.artgerecht-projekt.de/ vorbei. Bald schon wird das Projekt aktiv gegen die diskriminierende Darstellung von Kindern und Eltern in Medien werden.

Was sind deine Gedanken zum Thema? Hinterlasse mir gerne einen Kommentar!

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Abonniere meinen kostenlosen Newsletter!

Erhalte viele praktische Tipps, Veranstaltungshinweise und verpasse keinen neuen Beitrag mehr.