In diesem Beitrag werde ich den Vorurteilen rund um die bindungsorientierte Erziehung auf den Grund gehen und erläutern, was dahinter steckt.
Ich untersuche verschiedene Thesen und ordne sie aus der bindungsorientierten Sicht ein.
Woran merkst du, dass du manche Dinge anders machst, als die Leute es erwarten?
Ich glaube nirgendwo sonst auf der Erde hat man solche Angst davor, seine Kinder zu verwöhnen, wie in Deutschland. Hier gibt es die tief verwurzelte Sorge, bereits alles falsch zu machen, wenn wir das tun, was sich eigentlich so richtig anfühlt.
ein wichtiger Impuls
Wer kennt nicht den Impuls, sofort zu einem weinenden Baby zu gehen und es zu trösten? Der Impuls ist so stark, dass man vor einiger Zeit den Müttern dazu riet, sich eine Uhr hinzustellen und zu schauen, wie lange das Schreien tatsächlich schon anhielt, weil einem das Geschrei sonst schon nach ein paar Sekunden, wie eine Ewigkeit vorkommt. Gut, wenn man die Uhr dabei hat und sieht, dass es doch ERST 5 Minuten schreit. 5 M i n u t e n in denen das Baby Ängste, Stress und Kummer erlebt.
Gut zu wissen…
Die Eltern der !Kung (Naturvolk in der südlichen Kalahari) reagieren im Schnitt innerhalb von 19 Sek. auf ein weinendes Baby. Und das vermutlich ganz ohne schlechtes Gewissen, ihrem Kind dadurch zu schaden. In der Folge schreien die Kinder zwar nicht seltener, aber kürzer.
Eine Studie kam zu dem Schluss, dass wir angemessen auf einen Säugling reagieren, wenn wir innerhalb von 90 Sek. auf das Baby eingehen. Das Baby hingegen 5 Minuten schreien zu lassen, verdoppele die gesamt Schreidauer.
Forschende sagen, Babys brauchen Bezugsperson, die prompt und zuverlässige auf ihr Weinen reagieren.
Die gute Nachricht:
Die gute Nachricht lautet also, wir dürfen das tun, was wir sowieso tun wollen (trösten und beruhigen) und das ganz ohne schlechtes Gewissen. Unsere Kinder werden dadurch weder zu Tyrannen noch zur Unselbststänigkeit erzogen, sondern zu vertrauensvollen und stabilen Menschen und genau die braucht unser Planet.
Gut zu wissen…
Wir können davon ausgehen, dass das natürliche Abstillalter im Kleinkindalter liegt.
Das heißt, ein Baby mit einem Jahr abzustillen, ist für den Homo sapiens erstmal nicht unbedingt “normal”.
AAAABER der Homo sapiens ist eine sehr anpassungsfähige Spezies und hat daher, anders als die meisten anderen Säugetiere, keinen vererbten Brutpflegeinstinkt.
Wie wir mit unseren Babys am besten umgehen LERNEN wir daher von unserem Umfeld. Dadurch sind wir in der Lage, unter den unterschiedlichsten Bedingungen zu (über-)leben.
Wie lange genau gestillt wurde war daher schon immer abhängig vom weiteren Nahrungsangebot am Aufenthaltsort.
Was bedeutet das für uns?
Das heißt, es ist super, wenn wir länger stillen wollen und nicht umsonst empfiehlt die WHO das Stillen bis ins Kleinkindalter, wenn es für die Familie stimmig ist. Und ja, Stillen hat viele Vorteile, über die schon viel geschrieben wurde.
Das heißt aber auch, dass allein das Stillen nicht darüber entscheidet, ob wir eine schlechte oder gute Mama sind. Denn in unserer Umgebung gibt es ein sehr gutes Nahrungsangebot (Premilch). Außerdem möchte ich ausdrücklich betonen, dass es in dieser Reihe um Klischees einer bindungsorientierten Erziehung geht. Ich bin überzeugt dass Bindungsorientierung auch mit achtsamer Fläschchenernährung und/oder einer kürzeren Stilldauer gelebt werden kann.
Fazit:
Dieser Text soll alle Familien entlasten, die gerne länger stillen möchten und sich unter Druck gesetzt fühlen. An alle anderen bindungsorientierten Eltern da draußen: Ihr macht genauso einen guten Job, auch ohne Langzeitstillen.
Die gute Nachricht:
Wir können hier also ganz getrost das tun, womit wir uns wohler fühlen, die Kritiker (egal von welcher Seite sie kommen) respektvoll in die Schranken weisen und unseren Standpunkt vertreten, das beste Argument ist, dass es euch als Familie damit gut geht!
Gut zu wissen…
Seit es Menschen gibt, tragen sie ihre Babys und dies zeigt sich nicht zuletzt in ihrem Verhalten. Wenn ein Baby hochgenommen wird, zieht es sofort die Beinchen in Froschstellung an und passt so perfekt auf die Hüfte.
Außerdem verfügen kleine Babys noch über einen Greifreflex, um sich an der Bindungsperson festzuhalten und viele fühlen sich nur in diesem engem Kontakt richtig sicher und geborgen.
Auch Tragende profitieren bei richtiger Technik zum Beispiel durch ein stetiges Training der Rückenmuskulatur. Zudem werden bei ihnen und dem Baby durch den engen (Haut)-Kontakt Hormone ausgeschüttet, die beide ruhiger und geduldiger werden lassen.
Was bedeutet das für uns?
Wenn du dein Baby also gerne tragen möchtest, hast du jede Menge gute Gründe dafür und du brauchst dir keine Sorgen machen, es dadurch zu verwöhnen. Du kannst dein Baby so oft und so lange tragen, wie es sich für euch beide gut anfühlt.
ABER, wenn du dein Baby gerade nicht oder gar nicht tragen möchtest, bist du deswegen nicht schlecht. Vielleicht findest du eine andere Bindungsperson, die das für dich übernehmen kann oder du suchst andere Wege, deinem Baby die Nähe zu geben, die es braucht.
Die gute Nachricht:
Ob du dein Baby im Kinderwagen schiebst, auf dem Rücken trägst (und den Rucksack im Wagen schiebst), unterwegs von der Trage in den Wagen, vom Wagen ins Tuch wechselst, das sagt alles nichts über eure Beziehung aus! Was Kinderwagen und Tragehilfen nämlich NICHT sind, ist: Wettbewerb, Abgrenzung, Dogma. Sie sind auch kein Erkennungszeichen einer guten oder schlechten Bindungsperson.
Kinderwagen und Tragehilfen sind nämlich nur das: Hilfen! Du darfst sie so einsetzen, wie es sich für euch richtig anfühlt. Das kann heute so und morgen so sein. Mach dir das Leben mit Baby so angenehm wie möglich und nutze dabei alle Hilfen, die dir zur Verfügung stehen.
Gut zu wissen…
Babys, die in der Steinzeit alleine irgendwo geschlafen hätten, hätten mit hoher Wahrscheinlichkeit die Nacht nicht überlebt.
Daher haben unsere kompetenten Babys einen Schutzmechanismus “eingebaut”, der verhindern soll, dass sie abgelegt und vielleicht sogar vergessen werden.
Je nach Temperament des Kindes kann sich das stärker oder weniger deutlich äußern.
In regelmäßigen Abständen führen sie “Sicherheitschecks” durch. Sie werden wach und überprüfen, ob noch alles in Ordnung ist. Wenn sie alleine sind, “rufen” sie um Hilfe.
Was bedeutet das für uns?
Viele Babys schlafen daher besser in der Nähe ihrer Eltern.
Die Kriterien für eine sichere Schlafumgebung sollten im Hinblick auf den plötzlichen Kindstod gewährleitet sein! (Infos z.B. im artgerecht® Babybuch).
Fazit:
In einer sicheren Schlafumgebung (nach Kriterien) können Babys von der Nähe ihrer Eltern profitierten.
Jede Familie ist anders, jedes Kind ist anders, es gibt nicht die EINE Schlafumgebung für ALLE.
Ihr sorgt für die sichere Schlafumgebung und entscheidet, in welchem Setting es allen am besten geht und wie alle am meisten Schlaf bekommen, denn Schlaf hat Priorität!
Die gute Nachricht:
Kein Kind MUSS in einem bestimmten Alter in einer bestimmten Umgebung schlafen. Lass dich hier (aus keiner Richtung) unter Druck setzen.
Gut zu wissen…
Ja, es gibt Dinge, die sollten wir ganz bald loslassen:
negative Glaubenssätze: “Kinder sind Tyrannen”, “Kinder brauchen Lob und Strafe”
“Katastrophendenken”: “Wie soll das nur werden, wenn das Kind groß ist und immer noch nicht mal kann/macht/lernt?”, “Was, wenn mein Kind nie selbstständig wird, weil ich xy (nicht) gemacht habe???”
Vergleiche: “Alle anderen Babys in dem Alter krabbeln doch auch schon”, “Die Mama von Sarah sieht immer so perfekt aus, wie schafft sie das nur???”
Toxische Kommentare: “Also an deiner Stelle würde ich mir mal Gedanken machen, ob mit deinem Kind noch alles in Ordnung ist”, “Du willst doch keine Helikoptermutter sein, also ehrlich!”
Manchmal verändert sich alles, wenn wir loslassen statt festhalten.
Die gute Nachricht:
Aber gleichzeitig gibt es Dinge, die wir nicht loslassen MÜSSEN:
die Einschlafbegleitung
das (Einschlaf-)Stillen
das Tragen
das zusammen spielen
das gemeinsame Schlafen
das Verständnis
unser Kind, wenn es aus Wut/Trauer/Verzweiflung weint
Fazit:
Manchmal verändert es alles, wenn wir festhalten statt loslassen.
Und wenn wir gut in uns hineinspüren, werden wir klar sehen, was davon, wann zu tun ist. Ihr dürft euch und euren Kindern vertrauen.
Gut zu wissen…
Unsere Babys sind in vielen Bereichen so viel kompetenter, als wir glauben und das obwohl sie physiologisch gesehen Frühgeburten sind.
Anders, als häufig angenommen, kommen Babys mit dem Bedürfnis auf die Welt, sich selbst und ihre Bezugsperson nicht zu beschmutzen.
In einem Experiment versuchten Forschende Urin aus kleinen Babys “herauszudrücken”, indem sie auf die volle Babyblase drückten. Anders als erwartet, hielten die Kleinen aktiv den Urin zurück. Somit konnte gezeigt werden, dass Babys nicht, wie angenommen unkontrolliert Urin verlieren.
Was für uns erstmal komisch klingt, ist in vielen anderen Ländern der Welt kein Staunen wert, denn hier wird dieses Wissen einfach in den Alltag integriert und die Babys werden abgehalten.
Was bedeutet das für uns?
Diese Erkenntnis eröffnet uns Eltern ganz neue Möglichkeiten. So habe ich nun eine Handlungsoption mehr, wenn Baby unzufrieden ist. Hunger? Müde? Oder muss es mal???
Ich kann dieses Wissen nutzen, um den Alltag zu erleichtern: Es stellt eine gute Prophylaxe gegen Blähungen und Verstopfung dar. Es kann helfen, wenn das Stillen oder die Nächte unruhig sind und die Verbindung zum Kind stärken.
Kurz, es fühlt sich für die, die es machen oft richtig, richtig gut an, auf diese entspannte Weise auf das Ausscheidungsbedürfnis einzugehen.
Die Kritiker:
Und dann kommen die (ungefragten) Kommentare von außen: die Schwägerin, die Ärztin, die andere Mutter. Entsetzte Blicke. Kopfschütteln. Und sofort ist die Verunsicherung groß. Mach ich da etwa etwas Schlechtes oder Falsches?
Der Grund warum viele so ablehnend reagieren, ist möglicherweise, dass sie Ausscheidungskommunikation mit einem Sauberkeitstraining gleichsetzen, bei dem das Kind durch Druck, Strafen und Belohnungen zum Trockenwerden gedrillt wird. Darum geht es aber gar nicht.
Fazit:
Eltern, die ihre Kinder liebevoll und entspannt bei ihren Ausscheidungen unterstützen sind weder die besseren Menschen noch schaden sie ihrem Kind.
Die gute Nachricht:
Was sich gut anfühlt, ist im Kontakt mit unseren Kindern in der Regel auch gut.
“Wenn du es immer gleich hochnimmst, lernt es nie sich selbst zu beruhigen!”
FALSCH!
“Wenn ich es nicht hochnehme, lernt es nicht sich selbst zu beruhigen!”
Gut zu wissen…
Das Baby- und Kleinkindgehirn ist noch nicht vollständig ausgereift und das Kind KANN sich nicht alleine beruhigen und es wird auch noch sehr viel Übung brauchen, bis es es kann.
Du würdest wohl kaum mit einem 6 Monate alten Baby das Rechnen üben. Warum nicht? Weil du weißt, dass sein Gehirn in dem Alter noch gar nicht in der Lage ist, das zu bewerkstelligen.
Genauso ist es noch nicht in der Lage, sich alleine zu beruhigen. Es braucht dazu einen (ruhigen) Erwachsenen, der es “runterfährt” oder auch “runteratmet”. Das nennt man Co-Regulation.
Du bist ruhig, präsent und zugewandt und dein Baby beruhigt sich nach und nach durch den Körperkontakt mit dir. Dein ruhiger Atem zeigt deinem Baby, wie es ebenfalls ruhiger werden kann.
Die Kritiker:
Aber wieso hören Babys, die nicht getröstet werden dann auf zu weinen und machen es in der Zukunft häufig auch weniger? Das ist doch ein Zeichen dafür, dass sie es gelernt haben, oder?
Das einzige, was diese alleingelassenen Babys gelernt haben ist: “Keiner hilft mir, wenn ich in Not bin!”, denn Babys, die schreien sind IMMER in Not.
Und weil das Weinen so unglaublich viel Energie kostet, hören die Babys erschöpft auf und irgendwann weinen sie kaum noch, weil es ja sowieso nichts bringt. Also liegen sie da und harren der Dinge.
Aber was in ihrem Inneren vorgeht, können wir nur erahnen. Wissen wir doch, dass alleinsein für Babys evolutionäre gesehen Lebensgefahr bedeutete.
Übrigens: das heißt nicht, dass Babys, die getröstet werden auch automatisch aufhören zu weinen. Und das brauchen sie auch nicht.
Fazit:
Babys brauchen die Gewissheit, dass sie nicht alleine sind, dass sie jemand durch ihre Not begleitet. Dafür brauchen sie uns Erwachsene.
“Um uns hat man früher nicht so ein Theater gemacht!”
…
“Die Kinder heute wissen gar nicht, wie gut sie es haben!”
…
“Um uns hat man früher nicht so ein Theater gemacht!”
“Ich weiß, das tut mir leid! Lass dich umarmen!”
Mehr dazu kannst du im Elternkompass oder im artgerecht® Babybuch von Nicola Schmidt lesen.
Du willst mehr von dieser bindungsorientierten Sichtweise lesen? Dann empfehle ich dir meinen Beitrag Erziehen ohne Schimpfen in Kinderbüchern oder meine Stellungsnahme zum beliebten Vorwurf Kinder seien Tyrannen.
Hast du selbst Erfahrungen mit babygeleitetem Anlegen? Hinterlasse mir gerne einen Kommentar!
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